Der Schamane und die Schlange (2015)
„Transzendenz des Geistes“
Der Amazonas. Ein mystischer Ort, der bis heute nichts an seiner Faszination eingebüßt hat und nicht ohne Grund Gegenstand zahlloser Dokumentationen ist. In diese fremde Welt entführt uns DER SCHAMANE UND DIE SCHLANGE, den ich im Rahmen der Berlinale gesehen habe und mein dortiges Highlight war. Auch für den Oscar als Bester fremdsprachiger Film war das Werk von Regisseur Ciro Guerra nominiert.
Ein Fluss. Die Zeit, Erinnerungen und Wissen rauschen vorbei. In mitten dieses Sogs steht der Schamane Karamakate (Antonio Bolivar/Nilbio Torres), letzter Überlebender seines Stammes. Innerhalb seines Lebens soll er zweimal auf Weiße treffen. Beide Male handelt es sich um europäische Forscher, die seine Hilfe suchen. Sie sind Suchende, deren Ziele sich einerseits gleichen und doch anders nicht sein könnten.
Die erste Begegnung ereignet sich im Jahr 1909, als Karamakate, damals selbst noch ein wut-erfüllter junger Mann, auf den deutschen Ethnologen Theodor Koch-Grünberg (Jan Bijvoet) und seinen Begleiter Manduca (Yauenkü Migue) trifft. Der junge Schamane strotzt nur so vor Idealen und dem Willen seine Kultur und das damit verbundene Wissen vor den Schrecken der Kolonialherren zu bewahren. Nun soll er mit eben diesem Wissen dem Fremden helfen und ihn von einer Tropenkrankheit heilen – das Wundermittel: eine sagenumwobene Pflanze namens Yakruna.
Rund 30 Jahre später sucht ihn erneut ein Wissenschaftler auf. Dieses Mal handelt es sich um den amerikanischen Botaniker Evan Schultes (Brionne Davis). Koch-Grünbergs Aufzeichnungen führten ihn an diesen Ort, weit ab der Zivilisation. Auch er hofft, dass Karamakate ihm den Weg zur Yakruna-Pflanze weisen könne und ihn somit das Träumen lehren kann.
Doch da ist Karamakate bereits ein alter, geknickter und von Selbstzweifeln heimgesuchter Mann – ein „chullachaqui“, ein seelenloser Wiedergänger und leere, ebenbildliche Hülle seiner selbst. Die jahrelange Isolation hat ihn seiner Identität beraubt. Eine Reise durch die Tiefen des Urwaldes auf der Suche nach Yakruna beginnt, auf der sich die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen. Dabei findet auch Karamakate wieder Stück für Stück zu sich selbst und sinnt auf die Wiedergutmachung seiner einstigen Fehler.
Rausch-Reise auf dem Amazonas
Kolumbien. Bisher nicht gerade eine Nation, die für ihre Filmschaffenden bekannt war. Doch es setzt ein Wandel ein, denn das Potential und das Streben nach Großem ist da. Einen erheblichen Beitrag dazu leistet Regisseur Ciro Guerras schwarz-weißer Heimat-Epos DER SCHAMANE UND DIE SCHLANGE, der beispielsweise an Werke Herzogs wie FITZCARRALDO oder AGUIRRE, DER ZORN GOTTES erinnert. Anders als eben diese, wird die Entwicklung des Landes aus Sicht eines Einheimischen erzählt, der Dreh-und Angelpunkt dieser filmischen Auseinandersetzung mit Historien-Doku-Charakter.
Vier Jahre Arbeit stecken in dem Drehbuch zu DER SCHAMANE UND DIE SCHLANGE, denen die tatsächlichen Tagebuchaufzeichnungen der Forscher Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) und Richard Evans Schultes (1915-2001) zu Grunde liegen. Guerra bringt dabei in vielen Szenen seinen Wut über den Kolonialismus zum Ausdruck und macht ihm Luft. Drastisch inszeniert er die verheerenden Auswirkungen des Kolonialismus, der katholischen Missionierung, des Kautschuk-Raubbaus und der damit verbundenen Respektlosigkeit gegenüber Flora und Fauna.
Schuhplattlern im Regenwald
DER SCHAMANE UND DIE SCHLANGE versetzt uns in Staunen, ein Film, von dem ein magischer Sog ausgeht und der es vermag uns direkt an den Ort des Geschehens zu transportieren: der reißende, wilde Fluss, die üppigen Waldlandschaften oder auch majestätisch herausragende Berge. Der Zuschauer wird regelrecht in einen berauschenden, meditativen Zustand versetzt. In EL ABRAZO DE LA SERPIENTE (Der Kuss der Schlange), wie der Film im Original heißt, prallen zwei Kulturen in brachialer Archaik aufeinander.
Die Weißen dringen wie ein Fremdkörper in den Urwald ein und verdrängen Stück für Stück die ansässigen Werte. Einige von ihnen mit guten Absichten, doch der auf der Suche nach Wissen mitgebrachte Fortschritt bedeutet gleichermaßen Zerstörung. Dabei gehen Schrecken und Bedrohlichkeit nicht vom Dschungel selbst aus, sondern werden von den Eindringlingen in ihn hineingetragen und schwächen ihn maßgeblich. Der weiße Mann als Kultur-todbringende Krankheit.
Filmmagie in Reinform
Das Werk Guerras ist im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtig: in ihm verschmelzen zwei Zeitebenen geradezu nahtlos ineinander. Werden doch die beiden Handlungen zu einem Webteppich wiederkehrender Muster und ähnlicher Situationen geknüpft. Doch gerade weil der sonst so kunstvoll inszenierte Film durch eben diese Eigenschaft besticht, ist es etwas enttäuschend, dass ausgerechnet die Fieberträume, als ein Kernelement des Films, eher wenig einfallsreich erscheinen.
DER SCHAMANE UND DIE SCHLANGE ist definitiv ein Kinoerlebnis und eine philosophische Grenzerfahrung, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Ich hatte das Glück den Film im Rahmen der Berlinale im IMAX sehen zu dürfen, was aufgrund der Nischenwirkung des Films in dieser Form wohl leider nicht mehr möglich sein wird.
Das Schlusswort möchte ich dem Regisseur dieses herausragenden Filmes übergeben, der äußerst pointiert und durchdringend die Beweggründe für dieses filmische Projekt darlegt:
“Immer wenn ich mir unser Land auf der Karte anschaue, überwältigt mich ein Gefühl großer Unzulänglichkeit. Die Hälfte des Landes ist ein unbekanntes Gebiet, ein grünes Meer, über das wir
nichts wissen.
Den Amazonas, dieses unergründliche Land, reduzieren wir in unserer Unwissenheit auf einfache Klischees.
Kokain, Drogen, Indios, Flüsse, Krieg.
Gibt es da wirklich nicht mehr?
Gibt es da keine Kultur, keine Geschichte?
Ist da nicht eine Seele, die über sich hinausweist?
Die frühen Forscher belehrten mich eines Besseren.
Diese Männer ließen alles hinter sich, sie riskierten alles, um uns über eine Welt zu berichten, die wir uns nicht vorstellen konnten. Sie kamen als erste mit dieser Welt in Berührung, während einem der schlimmsten Völkermorde, den die Menschheit erlebte.
Kann der Mensch mit Wissenschaft und Kunst die Brutalität transzendieren?
Einige haben es geschafft.
Die Forscher haben uns ihre Geschichte erzählt.
Nicht aber die Eingeborenen.
Das ist der springende Punkt.
Ein Land von der Größe eines ganzen Kontinents, das uns seine Geschichte noch nicht erzählt hat.
Unser Kino hat es noch nicht gesehen.
Inzwischen ging der alte Amazonas verloren.
Doch im Film können wir ihn wieder leben lassen.”
– CIRO GUERRA
8,5 / 10
Titel: | Der Schamane und die Schlange (El abrazo de la serpiente) |
Produktionsjahr: | 2015 |
Altersfreigabe: | FSK 12 |
Regie: | Ciro Guerra |
Cast: | Jan Bijvoet, Brionne Davis , Nilbio Torres, Antonio Bolívar, Luigi Sciamanna, Yauenkü Migue, Nicolás Cancino |
Produktionsland: | Kolumbien |
Länge: | 125 Minuten |
Kinostart: | 21. April 2016 |
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Trailer:
Beitragsbild: © MFA+
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